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Heutzutage würde man sagen: Der Mann hat sich breit aufgestellt. Clemens Wilmenrod, Fernsehkoch der ersten Stunde, umgibt sich in seinem Küchenstudio Mitte der fünfziger Jahre mit vielen technischen Helferlein; zur Seite stehen ihm zum Beispiel der Schnellbrater "Heinzelkoch", der Schnellschneider "Schneidboy" und natürlich auch der Müllschnellentsorger "Schluckspecht". Bei jeder Erwähnung einer dieser Gerätschaften vor laufender Kamera wird, wie schön, Geld auf Wilmenrods Konto überwiesen.
Einen Fernsehsender nur gibt es im Land, als der Herr mit dem sehr französischen Schnauzbart und dem sehr deutschen Gaumen 1953 seinen Dienst antritt. Eher naiv als arglistig nutzt er mit seiner geschäftstüchtigen Ehefrau (Anna Loos) das Monopol für die eigenen Zwecke. Auch Konservenhersteller und Geflügelgroßbauern dürfen sich bald bei Wilmenrods Sendung "Bitte in zehn Minuten zu Tisch" einkaufen. Als ein Putenzüchter kurz vor Weihnachten den deutschen Verbraucher überzeugen will, die Gans doch mal mit dem Truthahn zu tauschen, macht der TV-Koch auch hier mit und skandiert in die Kamera: "Die deutsche Pute marschiert!"
Clemens Wilmenrod, geboren mit dem nicht ganz so wohlklingenden Namen Carl Clemens Hahn, war in vielerlei Hinsicht ein Pionier. Er war der erste in Deutschland, der live vor der Kamera kochte, und er war der erste, der hemmungslos Product Placement betrieb. In den stärksten Momenten der Tragikomödie "Es liegt mir auf der Zunge", die am Mittwochabend in der ARD zu sehen ist, erstrahlt deshalb das Wirtschaftswunderland Deutschland eher als Schleichwerbe-Wunderland.
Der Sender als Abenteuerspielplatz
Als pikante Note dieser Aufschneiderbiografie aus den Kindertagen des deutschen Fernsehens erscheint es da, dass der Film vonDoris J. Heinze redaktionell betreut wurde, also von jener unlängst fristlos gekündigten NDR-Fernsehspielchefin, die durch ihre betrügerischen Aktivitäten die gesamte ARD in eine schwere Krise gestürzt hat. Im Zusammenhang mit dem Fall Heinze bekommt das freundliche NDR-Schelmenstück einen durchaus bösen Unterton: Auch dem Anfang der Öffentlich-Rechtlichen wohnte keine Unschuld inne.
Dabei mutet in der NDR-Produktion doch alles so klein, sauber und überschaubar an, als Wilmenrod Anfang der fünfziger Jahre loslegt. Der Nordwestdeutsche Rundfunk scheint nichts anderes als ein Abenteuerspielplatz zu sein. Der Blender und Selbstblender, gespielt von Jan Josef Liefers, muss sich nur kurz an der Vorzimmerdame (Catrin Striebeck) vorbeicharmieren, um innerhalb von zwei Minuten den Intendanten (Gustav Peter Wöhler) von sich zu überzeugen. Kurz darauf schon steht er vor der Kamera und verrührt mit einer Inbrunst Konserven, als male er Gemälde.
Von der möglichen Trivialität seines Handelns lenkt Wilmenrod ab, indem er das Publikum mit immer neuen, haarsträubenden Anekdoten konfrontiert. Ein halbes Kilo Gehacktes wird bei ihm nicht zu Frikadellen, sondern zum "Arabischen Reiterfleisch". Das Rezept stammt angeblich aus dem Libanon. "Obwohl nur 200 Kilometer lang und 20 Kilometer breit", so der lukullische Hasardeur, "leben dort mehr Spitzbuben als auf der gesamten Nordhalbkugel zusammengenommen!"
Die Presse nannte ihn Lügner, die Konkurrenz Nichtskönner, er selbst sah sich als Schauspieler. Auf jeden Fall war Wilmenrod ein großer Künstler der Illusion. Seine kulinarischen Errungenschaften mögen begrenzt gewesen sein, trotzdem sind sein "Heringssalat nach Art der bretonischen Fischer" (Tomatenmark, Dosensahne, Heringsstückchen, Banane) und sein "Toast Hawaii" (Weißbrot, Schinken, Scheiblette, Dosenananas) moderne Küchenfolklore.
Erfolgsformel des Fast-Food-Dichters
Leider gelingt es dem NDR-Film nicht vollends, die Wirkungsmacht des poetischen Einfaltspinsels herauszuarbeiten. Sicher, Jan Josef Liefers, einer der versiertesten Komödianten, den das deutsche Fernsehen zu bieten hat, spielt seinen Wilmenrod mit wunderbarer Doppelbödigkeit, irgendwo zwischen Miederwarenhausierer und Künstlergenie.
Die tiefere Ursache für den Erfolg des Fast-Food-Dichters aber wird nicht geklärt - sprach Wilmenrod doch mit seinen zum Großteil auf Konserven basierenden Schnellgerichten die längst noch nicht verheilte deutsche Nachkriegsseele an. Klar, man begann während des Wirtschaftswunders nach Capri oder an die Côte d'Azur zu reisen, im Keller aber hortete man Kartoffeln und Dosenkost für möglicherweise doch wieder hereinbrechende schlechtere Zeiten. Und mit seiner Mischung aus unverbindlichem Exotismus und Trümmerkinderpragmatismus traf Wilmenrod eben genau den Nerv der Zeit.
Doch diesen notwendigen Subtext sparen Autor Lothar Kurzawa und Regisseur Kaspar Heidelbach (Beide arbeiteten auch schon für dienaive NS-Travestie "Berlin 36" mit Doris J. Heinze zusammen) leider gänzlich aus. Das Setting wird als eine Art Puppenstübchen bis ins letzte Detail pittoresk ausstaffiert, aber die wirklich zentralen kulinarischen und kulturellen Aspekte, die "Es liegt mir auf der Zunge" zu einem erhellenden Sittengemälde hätten machen können, bleiben außen vor.
Wie ein Mann mit bescheidenem kulinarischen Horizont ein ganzes Volk vom Herd aus verzaubern konnte? Wilmenrod, so einfach ist das, schenkte den Menschen im Nachkriegsdeutschland mit seinen Konservenkreationen eine köstliche Illusion: Unter den Trümmern liegt Hawaii.
"Es liegt mir auf der Zunge", Mittwoch 20.15 Uhr, ARD