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In der Steinzeit des deutschen Fernsehens, als die Schwarzweißbilder noch in umgebauten Bunkern aufgenommen wurden und man noch glaubte, Kamerabewegungen würden beim Zuschauer epileptische Anfälle auslösen, faszinierte Clemens Wilmenrod mit dem feinen Schnurrbärtchen regelmäßig ein Massenpublikum.
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Wenn er in seiner Sendung „Bitte in 10 Minuten zu Tisch“ den Hausfrauen ein angeblich selbsterfundenes Kabeljaurezept vortrug, war am nächsten Tag Kabeljau in den Fischgeschäften der jungen Bundesrepublik knapp.
2,7 Millionen „Abonnenten“ (so nannte man das damals) hatte das aufregende neue Medium Fernsehen im Jahre 1959, als der „Spiegel“ Wilmenrod sogar eine Titelgeschichte widmete. Und so gut wie alle jener Medienpioniere schauten sich Wilmenrods Kochshow an. Wegzappen konnten sie ja nicht. Denn bevor 1963 das ZDF auf Sendung ging, gab es nur einen Fernsehsender.
Doch wie so mancher Mattscheibenstar der frühen Jahre endete auch Wilmenrod tragisch: 1967, drei Jahre nachdem seine Sendung wegen ihre Antiquiertheit und wegen Schleichwerbungsvorwürfen eingestellt worden war, erschoss der krebskranke Wilmenrod sich in München.
Erst seit einen paar Jahren hat u. a. sein junger Nachfahre Tim Mälzer den Dinosaurier des Fernsehkochwesen wieder ins Gedächtnis zurückgeholt, indem er in seiner Sendung daran erinnerte, dass Wilmenrod ja den „Toast Hawaii“ erfunden habe, einen bis heute beliebten Partysnack mit Toastbrot, Schinken, Ananas und überbackenem Käse. Demnächst sendet Wilmenrods einstiger Stammsender eine Filmbiographie, in der Jan Josef Liefers den Hausfrauenhypnotiseur spielt („Es liegt mir auf der Zunge“, 25. November, 20. 15 Uhr, ARD).
Am 20. Februar 1953 ging Wilmenrod im von den Alliierten geschaffenen Riesenregionalsender Nordwestdeutscher Rundfunkt (NWDR) erstmals auf Sendung, 1954 wurde die Show ins neue bundesweit ausgestrahlte Fernsehprogramm übernommen.
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In seinem Debüt servierte Wilmenrod Fruchtsaft im Glas, „italienisches“ Omelett, Kalbsniere mit Mischgemüse aus der Konserve und zum Abschluss Mokka. Es war in vielerlei Hinsicht ein zeittypisches Menü: Innereien waren in der deutschen Massenküche noch nicht aus der Mode gekommen, Konserven galten als modern, und Italien war der Traum aller Deutschen.
Letzteres zeigt sich auch in einem Filmchen mit Clemens Wilmenrod, das bei Youtube zu sehen ist: Darin berichtet er, wo ihm die rückblickend doch reichlich banale Idee kam, Erdbeeren mit Mandeln zu „füllen“. Natürlich in Rom, als ihm ein altes Weib frische Erdbeeren verkaufte und er darüber sinnierte, was mit den Löchern, die der ausgerissene Stengel hinterlässt, zu tun wäre. Man sieht förmlich ein Öl-Genrebild im Stile der in den Fünfzigerjahren so beliebten „Zigeunerinnen“ vor dem geistigen Auge.
Seine Erdbeerbanalitäten garniert Wilmenrod mit edem Zitat aus Hölderlins „Hyperion“: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.“ Und den entscheidenden Moment der Idee kommentiert er mit dem Satz: „Da wusste ich, womit sie zu füllen sei: mit einer Mandel.“ Dabei spricht er das Wort Mandel so bedeutungsvoll aus, als stünde er in Gustaf Gründgens „Faust“-Inszenierung auf der Bühne.
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Wilmenrod war tatsächlich ein mäßig erfolgreicher Schauspieler auf deutschen Provinzbühnen gewesen, der in seiner Freizeit höchstens für Freunde und Kollegen kochte, bevor ihm die Idee zu einer völlig neuartigen Show kam.
Angeblich hatte er im Fernsehen einen Giftforscher gesehen, der eine Schlange in der Hand hielt. In der Nahaufnahme sah es unglaublich spannend aus, wie der Mann die Giftzähne des Tieres molk. Da flüsterte Wilmenrod seiner Gattin Erika zu: „Stell dir vor, dieses Biest wäre ein Omelett gewesen.“ Kann sein, dass es so war, kann aber auch nicht sein. Vielleicht hatte Wilmenrod die Idee auch aus dem Ausland. Schon 1937 hatte Marcel Boulestin im britischen BBC-Fernsehen gekocht.
Der Schauspieler Wilmenrod und seine Gattin, die ihm in den frühen Sendungen auch assistierte (1958 wurden sie geschieden), boten ihr „Sendungskonzept“, wie man es heute wohl nennen würde, dem damaligen Hamburger Fernseh-Intendanten Werner Pleister an. Der griff sofort zu. Es war ja noch nicht so, dass er und seinesgleichen damals mit Drehbuchangeboten und Innovationen überschüttet wurden.
„Ihr lieben goldigen Menschen“ redete Wilmenrod in den ersten Jahren seine Zuschauer an – bereits diese Ouvertüre gab den beschaulichen Ton vor. Später tauschte er diese Begrüßungsformel gegen „Liebe Brüder und Schwestern in Lucullus“ aus. Das wiederum wurde nach Protesten eines Theologie-Professors, der sich an den Kolosserbrief des Paulus („gläubige Brüder in Christo“) erinnnerte fühlte, durch „Verehrte Feinschmeckergemeinde“ ersetzt. Man sage nicht, früher hätte es keine semantischen Gefechte um politische Korrektheit gegeben.
Wie ausgeprägt die Empfindlichkeiten damals schon waren, beweist eine andere Wilmenrod-Anekdote. Während er sein bis heute legendäres „Arabisches Reiterfleisch“ kredenzte (eine Bulette mit Paprikapulver), schwafelte dieser Karl May des Kochschaugewerbes über den Libanon, von wo er sein Rezept angeblich mitgebracht hatte: „Der Libanon ist ein Randländchen Vorderasiens, welches sich an der Mittelmeerküste erstreckt. Obwohl nur 200 Kilometer lang und 20 Kilometer breit, gibt es dort mehr Spitzbuben auf der gesamten Nordhalbkugel zusammen.“ Die paar hundert Araber, die damals in Deutschland lebten und alle Arabistik-Professoren protestierten. Immerhin wurden noch keine Botschaften gestürmt.
Seine Rezepte hatte Wilmenrod nach eigenen Angaben in einem berühmten roten Buch gesammelt, seitdem er in seiner Zeit am Leipziger Komödienhaus mit einer jungen Französin zusammen war, die ihn – oh la la – in die Mysterien der Kochkunst einweihte.
In Wirklichkeit klaute er sie oft aus Standardwerken der gehobenen Küche und gab ihnen fantasievolle, nach fernen Ländern klingende Namen wie „Spaghetti nach Art der Schwarzen Carola“ oder „Amerikanische Leber mit Sauerkraut“. Erst 1955 musste er sich von seinem späteren TV-Kochkonkurrenten Hans Karl Adam beibringen lassen, wie man eine Zwiebel richtig schneidet.
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Profiköchen ließ Wilmenrods dilettantisches Getue oft die Wutadern anschwellen: So tunkte er seinen „Venezianischen Weihnachtsschmaus“ –eigentlich nur ein paniertes Schnitzel – wider alle Vernunft in eine Soße, die die krustige Panade aufweichte. Und er vermischte Madeira mit Sahne – das lässt die Sahne gerinnen.
Wilmenrods Hauptfeind war aber der legendäre „Hörzu“-Chefredakteur und „Mecki“-Erfinder Eduard Rhein, der den Kochdarsteller in seinem Blatt einmal als „Wilmenrotz“ beschimpfen ließ. Daraufhin zog sich Wilmenrod für einige Monate vom Bildschirm zurück und besuchte einen Freund in Kabul – offenbar waren seine Beziehungen zur muslimischen Welt doch nicht total vergiftet. Dort ließ er sich angeblich im „Harem“ Eier mit grüner Soße servieren – dieses Kabul muss wohl bei Frankfurt gelegen haben – und riet in der Buchfassung seiner Abenteuer, man solle Hände und Gedanken von den Frauen seines Gastgebers lassen („Wie in Abrahams Schoß erschien wie alle Wilmenrod-Breviere bei Hoffman & Campe).
Fernsehgeschichte schrieb Wilmenrod auch, weil er einer der ersten und bis heute fleißigsten Schleichwerber war. Er ließ sich von einem Geflügelbaron 1000 Mark dafür bezahlen, den Deutschen den Truthahn schmackhaft zu machen. Er rückte allerhand modisches und überflüssiges Küchengerät gegen Geld in die Kamera: Den vollelektronischen Schnellbrater „Heinzelkoch“, den Bratmat, den Schneidboy und anderes Gerümpel, das heute im Kuriositätenkabinett der Kulinarik verstaubt. 800 Mark Honorar bekam er pro Sendung. Das war nicht schlecht, aber dennoch war die Versuchung groß. Jahrelang warb Wilmenrod immer wieder für die Nachspeise Rumtopf, dessen Rezept angeblich aus dem Tagebuch einer „Frau Hermine Pott“ stammen sollte. Die Flensburger Rum-Firma Pott hatte ihn dazu animiert.
180 mal erschien Wilmenrod von 1953-1964 auf dem Bildschirm Auf dem Höhepunkt seines Ruhms trug sich der Mann, der 1906 als Carl Clemens Hahn in Oberzeuzheim bei Willmenrod im Westerwald geboren wurde, als „Bundesfeinschmecker“ in Gästebücher ein, die Konrad Adenauer kurz vor ihm als Bundeskanzler signiert hatte. Sein gezeichnetes Konterfei, das ihm der Karikaturist Mirko Szewczuk kurz vor Beginn der ersten Sendung auf die Schürze gepinselt hatte, verkaufte er als wertvolles Werbesignet.
Es gab noch keine Regeln und Gesetze gegen Schleichwerbung. Deswegen ist es ein bisschen billig, sich heute über Wilmenrods Geldgier lustig zu machen. Genauso leichtfertig ist der Spott über seine manchmal skurrilen Rezepte. In einer kompletten Sendung, die man auf der Homepage des NDR sehen kann, bereitet er einen Heringssalat mit einer Soße zu, für die er einfach Ketchup und Sahne zusammenrührt. Und wenn er den Hering in einer Lauge mit den damals noch völlig exotischen Gewürzen Piment, Koriander und Thymian mariniert, beruhigt er die Hausfrauen: Das alles bekomme man in jeder Drogerie oder jedem Feinkostgeschäft.
Man darf nicht vergessen: Als Wilmenrod anfing, war der Krieg gerade acht Jahre vorbei. Die Lebensmittelkarten wurden erst 1950 abgeschafft. Dosenkost galt als schnell, praktisch und zeitgemäß. Die Nouvelle Cuisine, die frische Zutaten in den Rang eines Küchenheiligtums erhob, war noch nicht geboren. Und die meisten Kräuter bekam man sowieso, wenn überhaupt, nur getrocknet. Noch Wilmenrods später Nachfolger Alfred Biolek musste in seinem ersten Mitte der Neunzigerjahre erschienen Kochbuch davon ausgehen, dass frischer Rosmarin in Deutschland nicht aufzutreiben sei.
Das war ein indirekte Folge der Varus-Schlacht vor genau 2000 Jahren. Mit den Römern wurde auch die Kochkunst von Deutschland fern gehalten. Die Römer mussten erst ein zweites Mal als Gastarbeiter und Pizzeriabesitzer kommen, um den Deutschen nahezubringen, dass man Nudeln nicht zu Matsch kocht und Frische nicht unhygienisch ist. Clemens Wilmenrod hat ihnen mit seinem „Venezianischen Weihnachtszauber“ ein klein wenig den Weg bereitet.
Es liegt mir auf der Zunge, ARD, 25. November, 20.15 Uhr